DER EINZUG JESU IN JERUSALEM

nach Maria Valtorta

Jesus legt seinen Arm um die Schultern seiner Mutter, die aufgestanden ist, als Johannes und Jakobus des Alphäus sie erreicht und ihr gesagt haben: «Dein Sohn kommt.» Sie sind dann zu ihren Gefährten zurückgekehrt, die nur langsam weitergehen und miteinander reden, während Thomas und Andreas nach Bethphage gelaufen sind, um die Eselin und das Füllen zu holen und sie Jesus zu bringen.

Jesus spricht inzwischen zu den Frauen: «Wir sind nun in der Nähe der Stadt. Ich würde euch raten weiterzugehen. Geht beruhigt weiter. Geht vor mir in die Stadt hinein. Bei En Rogel sind alle Hirten und die zuverlässigsten Jünger. Sie haben den Auftrag, euch zu begleiten und zu beschützen.»

«Weißt du... Wir haben mit Aser von Nazareth und Abel von Bethlehem in Galiläa und auch mit Salomon gesprochen. Sie sind hierher gekommen, um deine Ankunft rechtzeitig zu wissen. Das Volk bereitet ein großes Fest vor. Und wir würden es gerne sehen... Siehst du, wie die Wipfel der Olivenbäume sich bewegen? Es ist nicht der Wind, der sie so schüttelt. Es sind die Menschen, die Zweige abbrechen, um sie auf die Straße zu legen und dich damit vor der Sonne zu schützen. Und dort!? Schau, dort holen sie die Fächerblätter von den Palmen. Sie sehen wie Trauben aus, aber es sind Männer, die an den Stämmen hinaufgeklettert sind... Und an den Abhängen sieht man die Kinder sich bücken, um Blumen zu pflücken. Und gewiss holen auch die Frauen Blüten und duftende Kräuter aus den Gärten, um deinen Weg mit Blumen zu bestreuen. Wir möchten dabeisein... und es machen wie Maria des Lazarus, die alle Blumen, die dein Fuß im Garten des Lazarus berührte, eingesammelt hat...» bittet Maria des Kleophas, auch im Namen der anderen.

Jesus streichelt die Wange seiner alten Verwandten, die einem kleinen Mädchen gleicht, dass gern einem Schauspiel beiwohnen möchte, und sagt zu ihr: «Bei all den Leuten würdest du nichts sehen. Geht voraus. Zu dem Haus des Lazarus, dessen Hüter Matthias ist. Ich werde dort vorüberkommen, und ihr könnt mich von der Terrasse aus sehen.»

«Mein Sohn... du gehst allein? Darf ich nicht in deiner Nähe sein?» sagt Maria, hebt dabei ihr so trauriges Gesicht und richtet ihre himmlischen Augen auf das Antlitz ihres lieben Sohnes.

«Ich möchte dich bitten, dich verborgen zu halten. Wie die Taube in der Felsspalte. Mehr als deine Anwesenheit brauche ich dein Gebet, geliebte Mutter!»

«Wenn es so ist, mein Sohn, werden wir nur beten. Alle. Für dich.»

«Ja, wenn ihr den Einzug gesehen habt, dann kommt ihr mit uns in meinen Palast in Sion. Ich werde Diener zum Tempel und hinter dem Meister herschicken, damit sie uns seine Weisungen und Nachrichten von ihm bringen», entscheidet Maria des Lazarus, die immer am schnellsten versteht, was am besten zu tun ist, und es auch unverzüglich ausführt.

«Du hast recht, Schwester. Obwohl es mir leid tut, nicht mit ihm gehen zu können, verstehe ich die Richtigkeit der Anordnung. Im übrigen hat Lazarus uns befohlen, dem Meister in nichts zu widersprechen, sondern ihm auch in den kleinsten Dingen zu gehorchen. Und das werden wir tun.»

«Dann geht also. Seht ihr? Die Straßen beleben sich. Die Apostel werden auch gleich hier sein. Geht. Der Friede sei mit euch. Ich werde euch kommen lassen, wenn ich es für richtig halte. Mutter, leb wohl. Sei beruhigt, Gott ist mit uns.» Er küßt sie und verabschiedet sich von ihr. Und die gehorsamen Jüngerinnen entfernen sich rasch.

Die zehn Apostel sind nun bei Jesus angelangt. «Hast du sie vorausgeschickt?»

«Ja, sie werden meinen Einzug von einem Haus aus sehen.»

«Von welchem Haus?» fragt Judas von Kerioth.

«Ja, es gibt nun so viele befreundete Häuser!» sagt Philippus.

«Gehen sie nicht zu Annalia?» drängt Iskariot.

Jesus antwortet verneinend und geht Bethphage zu, dass nicht mehr weit entfernt ist.

Sie sind fast dort angelangt, als die beiden, die er weggeschickt hat, um die Eselin und das Füllen zu holen, zurückkommen. Sie rufen: «Wir haben alles gefunden, wie du gesagt hast, und wir hätten dir die Tiere gleich gebracht. Aber ihr Besitzer will sie erst striegeln und mit dem schönsten Zaumzeug schmücken, um dich zu ehren. Und die Jünger und alle, die zu deiner Ehre die Nacht auf den Straßen um Bethanien verbracht haben, wollten die Ehre haben, dir die Tiere zuzuführen. Wir haben uns einverstanden erklärt, denn wir glauben, dass ihre Liebe eine Belohnung verdient.»

«Das war richtig. Gehen wir unterdessen weiter.»

«Sind es viele Jünger?» fragt Bartholomäus.

«Oh, eine Unmenge! Es ist unmöglich, durch die Straßen von Bethphage zu kommen. Deshalb habe ich Isaak aufgetragen, die Esel zu Kleon, dem Käsemacher, zu bringen», antwortet Thomas.

«Das hast du gut gemacht. Wir wollen bis zu dem Hügelvorsprung dort gehen und im Schatten der Bäume warten.»

Sie begeben sich an die von Jesus genannte Stelle.

«Aber so entfernen wir uns ja! Du gehst ja hinten um Bethphage herum!» ruft Iskariot aus.

«Und wenn ich das tun will, wer kann es mir verbieten? Bin ich denn schon ein Gefangener, dass es mir nicht mehr erlaubt ist, zu gehen, wohin ich will? Oder hat man es vielleicht eilig damit und fürchtet, dass ich meiner Gefangennahme entgehen könnte? Wenn ich es für richtig hielte, mich an weiter entfernte, sichere Orte zu begeben, wer könnte mich daran hindern?» Jesus richtet seine blitzenden Augen auf den Verräter, der den Mund nicht mehr aufmacht und die Achseln zuckt, als ob er sagen wollte: «Tu, was du willst.»

Sie gehen hinten um den Ort herum. Ich würde sagen, dass es fast ein Vorort der Stadt ist, denn auf der Westseite grenzt er an die Hänge des Ölberges. Unten, zwischen den Abhängen und der Stadt, glänzt der Kedron in der Aprilsonne.

Jesus setzt sich in das stille Grün und vertieft sich in seine Gedanken. Dann steht er auf und geht bis zum äußersten Rand des Vorsprungs.

«Hier füge die Vision vom 31. Juli 1944 ein: Jesus weint über Jerusalem, beginnend mit dem Satz, den ich am Anfang der Vision gesagt habe.»

Dann fährt er fort, mir die Phasen seines triumphalen Einzuges zu zeigen.

30. Juli.

Ich weiß nicht, ob ich es schaffen werde, weiterzuschreiben, denn ich habe starke Herzschmerzen und kann nur mit Mühe sitzen. Aber ich muss schreiben, was ich sehe.

Von einem Hügel bei Jerusalem schaut Jesus auf die zu seinen Füßen liegende Stadt.

Es ist kein sehr hoher Hügel. Höchstens so hoch wie der Platz des heiligen Miniatus auf dem Berg bei Florenz, aber hoch genug, dass das Auge ganz Jerusalem überblickt mit seinen kleinen Bodenerhebungen, seinen Häusern und seinen hinauf- und hinunterführenden Straßen. Dieser Hügel ist auf alle Fälle sehr viel höher als der Kalvarienberg, wenn man vom niedrigsten Punkt der Stadt ausgeht, aber er liegt näher an der Stadtmauer. Er beginnt gleich an der Mauer und steigt auf dieser Seite steil an, auf der anderen dagegen fällt er sanft ab und geht in eine grüne Ebene über, die sich nach Osten erstreckt. Wenigstens glaube ich, dass es Osten ist, wenn ich den Stand der Sonne richtig beurteile.

Jesus und die Seinen sitzen im Schatten einer Baumgruppe. Sie ruhen sich vom Weg aus. Dann steht Jesus auf, verläßt den baumbestandenen Platz und geht bis an den Rand des Hügelvorsprungs.

Seine hohe Gestalt zeichnet sich scharf ab von der Leere, die ihn umgibt. Er sieht noch größer aus als sonst, so aufrecht und allein. Er kreuzt die Arme über der Brust, über dem blauen Mantel, und schaut ernst, sehr ernst hinunter.

Die Apostel beobachten ihn. Aber sie lassen ihn in Ruhe und regen sich nicht, sprechen auch nicht. Sie glauben wohl, dass er sich abgesondert hat, um zu beten.

Aber Jesus betet nicht. Nachdem er lange die Stadt betrachtet hat, alle ihre Viertel, alle ihre Hügel, alle ihre Besonderheiten, vielleicht auch mit den Blicken länger auf diesem oder jenem Punkt verweilt ist, und auf einem anderen nur kurz, beginnt Jesus zu weinen. Reglos und lautlos. Die

Tränen füllen seine Augen, fließen über auf die Wangen und fallen... Große, stille und so traurige Tränen. Tränen eines Menschen, der weiß, dass er allein und ohne Hoffnung auf den Trost und das Verständnis anderer weinen muss, dass niemand seinen Schmerz von ihm nehmen kann, dass er ihn bis zum Ende durchleiden muss.

Der Bruder des Johannes bemerkt von seinem Platz aus als erster dieses Weinen und sagt es den anderen, die sich erschrocken ansehen.

«Keiner von uns hat etwas Schlechtes getan», sagt einer; und ein anderer: «Auch die Leute haben ihn nicht beleidigt. Es war unter ihnen kein einziger Feind.»

«Warum weint er dann?» fragt der älteste von ihnen.

Petrus und Johannes stehen gleichzeitig auf und nähern sich dem Meister. Sie sind der Meinung, dass einzige, was man tun könne, sei, ihn fühlen zu lassen, dass man ihn liebt, und ihn zu fragen, warum er weint.

«Meister, du weinst?» sagt Johannes und legt sein blondes Haupt auf die Schulter Jesu, der einen ganzen Kopf größer ist als er.

Petrus legt ihm die Hand um die Taille, umarmt ihn fast, zieht ihn an sich und fragt: «Was betrübt dich, Jesus? Sage es uns, die wir dich lieben.»

Jesus legt seine Wange an den blonden Kopf des Johannes, öffnet die verschränkten Arme und legt seinerseits einen Arm um die Schultern des Petrus. So umarmt bleiben sie alle drei in einer von Liebe zeugenden Haltung stehen. Doch die Tränen rinnen immer noch.

Johannes, der seine Haare naß werden fühlt, fragt noch einmal: «Warum weinst du, mein Meister? Haben wir dich vielleicht gekränkt?»

Die anderen Apostel haben sich der liebenden Gruppe genähert und erwarten besorgt eine Antwort.

«Nein», sagt Jesus. «Ihr nicht. Ihr seid meine Freunde, und wenn eine Freundschaft aufrichtig ist, dann ist sie Balsam und Lächeln, niemals Tränen. Ich möchte, dass ihr immer meine Freunde bleibt, auch jetzt, da wir in die Verderbnis gehen, die alle in Gärung bringt und zerstört, die nicht den festen Willen haben, redlich zu bleiben.»

«Wohin gehen wir, Meister? Nicht nach Jerusalem? Die Volksmenge hat dich schon freudig begrüßt. Willst du sie enttäuschen? Gehen wir etwa nach Samaria aus irgendeinem besonderen Grund? Ausgerechnet jetzt, vor dem Passahfest?»

Die Fragen kommen gleichzeitig von mehreren.

Jesus hebt die Hände und gebietet Schweigen. Dann zeigt er mit der Rechten auf die Stadt. Eine ausladende Geste, wie die eines Sämanns, der vor sich aussät. Er sagt: «Dies ist die Verderbnis. Wir gehen nach Jerusalern. Dorthin. Und nur der Allerhöchste weiß, wie sehr ich mich sehne, es zu heiligen, ihm die Heiligkeit zu bringen, die vom Himmel kommt. Wieder heiligen möchte ich Jerusalem, dass die heilige Stadt sein sollte. Doch ich kann nichts tun. Sie ist verderbt und wird verderbt bleiben.

Die Ströme der Heiligkeit, die aus dem lebendigen Tempel fließen und in den nächsten Tagen immer mächtiger fließen werden, bis er selbst leer und ohne Leben sein wird, werden nicht ausreichen, sie zu erlösen. Samaria und die heidnische Welt werden zum Heiligen kommen. Über den Lügentempeln werden die Tempel des wahren Gottes erstehen. Die Herzen der Heiden werden Christus anbeten. Aber dieses Volk, diese Stadt, werden ihm immer feind sein, und ihr Haß wird sie zur größten Sünde führen. So muss es kommen. Aber wehe jenen, die die Werkzeuge dieses Verbrechens sind. Wehe...!»

Jesus schaut Judas, der ihm beinahe gegenübersteht, fest in die Augen.

«Das wird uns niemals passieren. Wir sind deine Apostel und glauben an dich. Wir sind bereit, für dich zu sterben.» Judas lügt unverschämt und hält dem Blick Jesu unbefangen stand.

Auch die anderen stimmen diesen Beteuerungen zu.

Jesus antwortet allen, ohne direkt auf die Worte des Judas einzugehen: «Gebe der Himmel, dass ihr so seid. Doch viel Schwäche ist noch in euch. Die Versuchung könnte euch denen ähnlich werden lassen, die mich hassen. Betet viel und seid wachsam. Satan weiß, dass seine Niederlage bevorsteht, und er versucht sich zu rächen, indem er euch mir entreißt. Satan ist uns allen nahe. Mir, um mich daran zu hindern, den Willen des Vaters zu tun und meine Mission zu erfüllen. Euch, um euch zu seinen Dienern zu machen. Seid wachsam. In diesen Mauern wird Satan den ergreifen, der nicht stark sein kann. Den, dessen Fluch es sein wird, dass er erwählt wurde, da er seine Berufung zu menschlichen Zwecken mißbrauchte. Ich habe euch für das Himmelreich und nicht für ein Reich in dieser Welt erwählt. Denkt daran.

Und du, Stadt, die du deinen Untergang willst und über die ich weine, wisse, dass dein Christus für deine Erlösung betet. Oh, wenn doch auch du an diesem deinem Tag, der dir noch bleibt, erkennen würdest, was dir zum Frieden dient! Wenn du doch wenigstens in dieser Stunde die Liebe, die vorübergeht, erkennen und deinen Haß ablegen würdest, der dich blind und von Sinnen macht, grausam gegen dich selbst und gegen dein eigenes Wohl! Aber der Tag wird kommen, an dem du dich dieser Stunde erinnerst. Dann wird es zu spät sein, zu weinen und zu bereuen! Die Liebe wird vorübergegangen und von deinen Straßen verschwunden sein, und bleiben wird der Haß, den du vorgezogen hast. Der Haß wird sich gegen dich richten, gegen deine Kinder; denn man erhält das, was man gewollt hat, und Haß wird mit Haß vergolten. Es wird dann nicht der Haß der Starken gegen den Schwachen sein, sondern Haß gegen Haß und daher Krieg und Tod. Eingeschlossen von Wällen und Bewaffneten wirst du schmachten, bevor du zerstört wirst. Du wirst deine Kinder durch Waffen und Hunger sterben und die Übriggebliebenen in Gefangenschaft und verachtet und verspottet sehen. Du wirst um Erbarmen flehen und kein

Erbarmen mehr finden, denn du wolltest nicht erkennen, was dir zum Heil dient.

Ich weine, Freunde, denn ich habe ein menschliches Herz, und die Zerstörung der Heimat läßt meine Tränen fließen. Aber es ist gerecht, dass dies geschehe, denn die Verderbtheit in diesen Mauern ist grenzenlos und zieht die Strafe Gottes herab. Wehe den Bürgern, die am Elend des Vaterlandes Schuld haben! Wehe den Vorstehern, denn sie tragen die Hauptschuld! Wehe denen, die heilig sein und die anderen zur Ehrbarkeit führen sollten, und statt dessen das Haus ihres Dienstes und sich selbst entweihen! Kommt, was ich tue, wird nichts nützen. Aber lassen wir das Licht noch einmal in der Finsternis leuchten.»

Jesus geht hinab, gefolgt von den Seinen. Er schreitet rasch mit ernstem, fast finsterem Gesicht auf dem Weg voran und sagt nichts mehr. Er betritt ein kleines Haus am Fuß des Hügels, und ich sehe nichts mehr.

Jesus sagt:

«Die von Lukas berichtete Szene erscheint zusammenhanglos, beinahe unlogisch. Beweine ich das Unglück einer schuldigen Stadt und kann nicht Nachsicht üben hinsichtlich der Gewohnheiten dieser Stadt?

Nein, ich kann es nicht, ich kann nicht nachsichtig sein, denn gerade diese Gewohnheiten sind die Ursache des Unheils, und dies sehen zu müssen, schmerzt mich noch mehr. Mein Zorn über die Tempelschänder ist die logische Folge meiner Betrachtung über den kommenden Untergang Jerusalems.

Es sind immer die Profanierungen des Gottesdienstes, der Gebote Gottes, die die Strafen Gottes herausfordern. Diese unwürdigen Priester und diese unwürdigen Gläubigen, die es nur dem Namen nach sind, haben aus dem Haus Gottes eine Räuberhöhle gemacht und auf das ganze Volk Fluch und Tod herabgerufen. Es nützt nichts, dem Übel, unter dem ein ganzes Volk leidet, diesen oder jenen Namen zu geben. Nennt es: Bestrafung für eine tierische Lebensweise. Gott zieht sich zurück und das Übel schreitet voran. Dies ist die Frucht des Lebens einer Nation, die nicht würdig ist, den Namen „christlich“ zu tragen.

Wie damals, so habe ich auch jetzt, in diesem ausgehenden Jahrhundert, nicht versäumt, durch Wunder zu erschüttern und zu mahnen. Aber wie damals habe ich für mich und meine Werkzeuge nur Verachtung, Gleichgültigkeit und Haß geerntet. Die einzelnen Menschen und die Nationen sollten jedoch daran denken, dass ihre Tränen nutzlos sind, da sie ihr Heil vorher nicht erkennen wollten. Vergebens werden sie mich anrufen, wenn sie mich in der Stunde, da ich bei ihnen weilte, in einem sakrilegischen Krieg verjagt haben; einem Krieg, der von den einzelnen, dem Bösen ergebenen Seelen, auf die ganze Nation übergegriffen hat. Die Länder können sich nicht so sehr durch Waffen retten als durch eine Lebensweise, die die Hilfe des Himmels herabruft.

Ruhe dich aus, kleiner Johannes. Sei deiner Berufung immer treu. Geh in Frieden.»

Welche Mühe! Ich kann nicht mehr...

Jesus hat gerade das Haus betreten, dessen Bewohner er segnet, als draußen heiteres Schellengeläut und fröhliche Stimmen hörbar werden. Bald darauf erscheint das hagere, blasse Gesicht Isaaks im Türspalt. Der getreue Hirte kommt herein und kniet vor seinem Herrn Jesus nieder.

Durch die nun offene Tür kann man eine Unzahl von Köpfen sehen, und hinter ihnen noch mehr... Man stößt sich, drängelt, will sich durchzwängen... Frauen rufen, Kinder, die mitten ins Gedränge geraten sind, weinen. Begrüßungen, festlicher Lärm: «Glücklich dieser Tag, der dich wieder zu uns bringt! Der Friede sei mit dir, Herr! Willkommen, Meister, der du unsere Treue belohnst!»

Jesus steht auf und gibt ein Zeichen, dass er reden will. Alle schweigen, und klar erklingt die Stimme Jesu.

«Der Friede sei mit euch! Drängelt nicht so. Wir gehen jetzt miteinander zum Tempel hinauf. Ich bin gekommen, um mit euch zusammen zu sein. Friede! Friede! Tut euch nicht weh. Macht Platz, meine Lieben! Laßt mich hinaus und folgt mir, denn wir wollen zusammen in die heilige Stadt einziehen.»

Die Leute gehorchen wohl oder übel und gehen etwas zur Seite, so dass Jesus herauskommen und das Eselsfüllen besteigen kann. Denn er wählt das Füllen, auf dem noch nie jemand geritten ist, als sein Reittier. Einige reiche Pilger in der Menge haben ihre prächtigen Mäntel über den Rücken des Tierchens gebreitet, und einer der Männer setzt ein Knie auf den Boden und bietet dem Herrn das andere als Steigbügel an. Er steigt auf das Füllen, und der Zug setzt sich in Bewegung. Auf der einen Seite des Meisters geht Petrus, Isaak auf der anderen. Dieser hält die Zügel des nicht zugerittenen Tieres, dass jedoch friedlich dahintrottet, als hätte es nie etwas anderes getan, und auch nicht erschrickt über die Blumen, die man Jesus zuwirft und die oft das weiche Maul und die Augen des Eselchens treffen. Es scheut auch nicht vor den Oliven- und Palmzweigen, die man ringsum und vor ihm schwenkt oder auf den Boden wirft, um einen Blumenteppich zu bilden; noch vor den immer lauter werdenden Rufen «Hosanna dem Sohne Davids!», die zum heiteren Himmel aufsteigen, während die Menge immer dichter und zahlreicher wird durch die neu Hinzukommenden.

Es ist nicht leicht, durch die engen, gewundenen Gäßlein von Bethphage zu kommen. Die Mütter müssen ihre Kinder auf den Arm nehmen und die Männer ihre Frauen vor zu heftigen Stößen schützen. Manche Väter lassen den kleinen Sohn auf den Schultern reiten oder halten ihn über die Köpfe der Menschen, während die Kinderstimmen sich wie das Blöken der Lämmer oder das Gezwitscher der Schwalben anhören und ihre Händchen Blumen und Olivenblätter streuen, die die Mütter ihnen reichen. Viele werfen dem gütigen Jesus Kußhändchen zu...

Als er die Enge der kleinen Ortschaft verlassen hat, ordnet sich der Zug und lockert sich auf, und viele Freiwillige begeben sich an die Spitze, um die Straße freizumachen, und andere folgen ihnen und streuen Zweige auf den Boden. Einer breitet als erster seinen Mantel als Teppich aus, dann ein anderer, dann tun es ihnen vier, zehn, hundert, tausend nach. In der Mitte der Straße liegt nun das bunte Band der ausgebreiteten Mäntel, und nachdem Jesus vorübergeritten ist, hebt man sie wieder auf und trägt sie, zusammen mit immer neu Hinzukommenden, voraus. Und Blumen, Zweige, Palmblätter werden geschwenkt und geworfen, und immer lautere Rufe ertönen zu Ehren des Königs von Israel, des Sohnes Davids und seines Reiches.

Die Wachsoldaten am Tor kommen heraus, um nachzusehen, was geschieht. Aber es ist kein Aufruhr, und so bleiben sie, auf ihre Lanzen gestützt, an den Seiten des Tores stehen und betrachten erstaunt oder spöttisch lächelnd das eigenartige Gefolge dieses Königs, der auf einem Eselsfüllen daherreitet, schön wie ein Gott und demütig wie der ärmste der Menschen, sanftmütig und Segen spendend... umgeben von Frauen, Kindern und unbewaffneten Männern, die «Friede, Friede!» rufen; dieses Königs, der vor seinem Einzug in die Stadt einen Augenblick auf der Höhe der Gräber der Aussätzigen von Hinnom und Siloe verweilt (ich hoffe, dass ich die Namen dieser Orte, an denen ich Jesus schon mehrmals Wunder an Aussätzigen habe wirken sehen, richtig schreibe) und sich etwas aufrichtet in dem einen Steigbügel, in dem er einen Fuß hat, da er nicht rittlings, sondern seitlich auf dem Eselchen sitzt. Er richtet sich auf, öffnet die Arme weit und ruft in die Richtung dieser schrecklichen Hänge, an denen sich furchterregende Gesichter und Körper zeigen. Sie sehen Jesus an und lassen den klagenden Ruf der Aussätzigen erschallen: «Unrein, unrein», um Unvorsichtige abzuschrecken, die sogar auf die verseuchten, verpesteten Felsen steigen würden, um Jesus besser zu sehen. «Wer an mich glaubt, rufe meinen Namen an, und er wird durch ihn geheilt werden!» Dann segnet Jesus sie, setzt seinen Weg fort und gebietet Judas von Kerioth: «Du wirst Lebensmittel für die Aussätzigen kaufen und sie ihnen vor dem Abend zusammen mit Simon bringen.»

Als der Zug durch das Tor von Siloe zieht und sich wie ein Strom durch den Vorort Ophel in die Stadt ergießt, gleicht jede Terrasse einem kleinen, in der Luft schwebenden Platz voller Menschen, die Blumen werfen und duftende Essenzen auf die Straße hinunterschütten und versuchen, den Meister damit zu treffen. Die Luft ist erfüllt vom Duft der unter den Füßen des Volkes sterbenden Blüten und der Essenzen, die ihren Wohlgeruch verbreiten, bevor sie in den Staub der Straße fallen. Das Geschrei der Volksmenge scheint lauter zu werden und es hört sich an, als ob jeder in ein Horn blase, denn die zahlreichen Gewölbe von Jerusalem verstärken die Rufe durch ihren Widerhall.

Ich höre Rufe und mir scheint, es ist das: «Schalom, Schalom, Melech!» das sich auch bei den Evangelisten findet. Das Geschrei nimmt kein Ende und gleicht dem Brausen einer stürmischen See. Das Tosen einer Sturzwelle, die den Strand und die Klippen peitscht, ist noch nicht vorüber, da folgt schon die nächste Welle, setzt es fort und verstärkt das Getöse, pausenlos. Ich bin halb taub davon.

Düfte, Gerüche, Rufe, Schwenken von Zweigen und Kleidungsstücken, Schreie... Es ist eine betäubende Vision.

Ich sehe die Menschenmenge ständig in Bewegung. Bekannte Gesichter tauchen auf und verschwinden wieder. Alle Jünger aus allen Orten Palästinas, alle Anhänger... Einen Augenblick sehe ich Jairus; ich sehe Jaia, den Jüngling aus Pella, wie mir scheint, der blind war wie seine Mutter und den Jesus geheilt hat. Ich sehe Joachim von Bozrah und den Landmann aus der Ebene von Saron mit seinen Brüdern; ich sehe den alten und einsamen Matthias vom Ostufer des Jordan, bei dem Jesus Unterkunft gefunden hat, als alles überschwemmt war; ich sehe Zachäus mit seinen bekehrten Freunden; ich sehe den alten Johannes von Nob und fast alle dortigen Bürger; ich sehe den Gatten der Sara aus Jutta... Aber wie soll ich alle Gesichter und Namen aufzählen bei diesem Kaleidoskop unbekannter und bekannter Gesichter, die ich schon mehrmals oder auch nur einmal gesehen habe? ... Da ist nun das Gesicht des Hirtenknaben, den sie von Ennon mitgenommen haben. In seiner Nähe ist der Jünger aus Chorazim, der das Begräbnis seines Vaters anderen überlassen hat, um Jesus nachzufolgen; neben ihm sehe ich einen Augenblick den Vater und die Mutter des Benjamin von Kapharnaum mit ihrem Söhnchen, dass beinahe unter die Hufe des Esels gerät, als es sich vordrängt, um eine Liebkosung Jesu zu erhaschen. Und leider auch Gesichter, die grün und blau vor Zorn sind über diesen Triumph, von Pharisäern und Schriftgelehrten, die mit Gewalt den Ring der Liebe durchbrechen, der sich um Jesus gebildet hat, und dem Meister zuschreien: «Bring diese Verrückten zum Schweigen! Rufe sie zur Vernunft! Nur Gott darf man Hosanna zurufen. Gebiete ihnen zu schweigen!»

Worauf Jesus sanftmütig antwortet: «Auch wenn ich ihnen Schweigen gebiete und sie gehorchen, werden die Steine die Wunder des Wortes Gottes verkünden.»

Denn die Leute rufen nicht nur: «Hosanna, Hosanna, dem Sohne Davids! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosanna ihm und seinem Reich! Gott ist mit uns! Der Emanuel ist gekommen! Gekommen ist das Reich Christi des Herrn! Hosanna! Hosanna von der Erde bis hinauf in die Himmelshöhen! Friede! Friede, mein König! Friede und Segen dir, heiliger König! Friede und Ehre im Himmel und auf Erden! Lob sei Gott für seinen Christus! Friede den Menschen, die ihn aufnehmen. Friede auf Erden den Menschen, die guten Willens sind, und Ehre Gott in der Höhe, denn die Stunde des Herrn ist gekommen.» Dieser letzte Ruf kommt von dem kompakten Grüppchen der Hirten, die den Ruf der Nacht der Geburt wiederholen. Außer diesen ständigen Zurufen erzählen die Leute aus Palästina den Pilgern aus der Diaspora von den Wundern, die sie gesehen haben; und allen, die nicht wissen, was hier geschieht, da sie Fremde und nur zufällig in der Stadt sind und fragen: «Wer ist denn dieser? Was geht hier vor?» erklären sie: «Es ist Jesus! Jesus, der Meister von Nazareth in Galiläa! Der Prophet! Der Messias des Herrn! Der Verheißene! Der Heilige!»

In einem Haustor, an dem sie soeben vorbeigekommen sind – das Vorwärtskommen ist bei diesem Durcheinander nur sehr langsam möglich – erscheint eine Gruppe kräftiger Jünglinge, die Gefäße mit glühenden Kohlen und Weihrauch in die Höhe halten und Wolken duftenden Rauchs verbreiten. Diese Geste wird sofort aufgegriffen und nachgeahmt, und viele eilen voraus oder zurück, um in den Häusern Feuer und duftendes Harz zu holen und es zu Ehren des Christus zu verbrennen.

Das Haus Annalias ist nun zu sehen. Reben umranken seine Terrasse, und die jungen Blättchen zittern im sanften Aprilwind. Auf der Straßenseite wartet eine ganze Reihe junger Frauen in weißen Kleidern und mit weißen Schleiern, in ihrer Mitte Annalia, mit Körben voller Rosenblätter und Maiglöckchen, die schon durch die Luft flattern.

«Die Jungfrauen Israels grüßen dich, Herr!» sagt Johannes, der sich einen Weg gebahnt hat, nun an der Seite Jesu geht und dessen Aufmerksamkeit auf die Girlande der Reinheit lenkt, die sich lächelnd über die Brüstung beugt und die Straße mit blutroten Rosenblättern und perlweißen Maiglöckchen bestreut.

Jesus zügelt einen Augenblick den Esel und hält ihn an. Er erhebt das Antlitz und die Hand, um diese Jungfräulichkeit zu segnen, die ihn so sehr liebt, dass sie auf jede andere irdische Liebe zu verzichten bereit ist.

Annalia beugt sich vor und ruft: «Deinen Triumph habe ich gesehen, o mein Herr! Nimm nun mein Leben zu deiner Verherrlichung vor der ganzen Welt!» Und mit einem lauten Aufschrei grüßt sie ihn: «Jesus!», während er unten an ihrem Haus vorbei- und weiterreitet.

Und ein anderer, verschiedenartiger Aufschrei übertönt den Lärm der Menge. Doch die Leute halten nicht an, obwohl sie ihn hören. Es ist ein Strom der Begeisterung, ein Strom ekstatischer Leute, der nicht anhalten kann. Und während die letzten Wellen dieses Stromes noch außerhalb des Stadttors sind, haben die ersten schon die Straßen erreicht, die zum Tempel hinaufführen.

«Deine Mutter!» schreit Petrus und deutet auf ein Haus, dass fast an der Ecke einer Straße steht, die zum Moriah hinaufführt und in die der Zug nun einbiegt. Jesus hebt das Antlitz, um seiner Mutter zuzulächeln, die dort oben mit den treuen Frauen steht.

Eine zahlreiche Karawane kommt ihnen entgegen und hält den Zug wenige Meter nach dem Haus auf, an dem er schon vorbei ist. Während Jesus mit den anderen wartet und dabei die Kinder liebkost, die ihm die Mütter entgegenhalten, drängt sich ein Mann schreiend durch die Menge: «Laßt mich durch! Eine Frau ist gestorben. Ein Mädchen. Ganz plötzlich. Ihre

Mutter ruft nach dem Meister. Laßt mich durch! Er hat sie schon einmal gerettet!»

Die Leute machen Platz, und der Mann eilt zu Jesus: «Meister, die Tochter Elisas ist gestorben. Sie hat dich mit diesem Ruf gegrüßt, dann hat sie sich umgedreht und gesagt: „Ich bin glücklich“, und ist gestorben. Ihr Herz ist zersprungen in dem großen Jubel, dich triumphieren zu sehen. Ihre Mutter hat mich auf der Terrasse neben ihrem Haus gesehen und mich zu dir geschickt. Komm, Meister!»

«Tot! Annalia ist tot! Aber sie war doch gestern noch gesund und blühend und glücklich!» Die Apostel kommen aufgeregt herbei, ebenso die Hirten. Alle haben sie gestern noch bei bester Gesundheit gesehen. Soeben noch haben sie Annalia rosig und lächelnd gesehen... Sie können das Unglück nicht fassen... Sie fragen, wollen Einzelheiten erfahren...

«Ich weiß nicht. Ihr habt alle ihre Worte gehört. Sie hat klar und laut gesprochen. Dann habe ich sie nach rückwärts fallen sehen, mit weißerem Gesicht als ihr Kleid, und habe den Schrei der Mutter gehört... Mehr weiß ich nicht.»

«Regt euch nicht auf. Sie ist nicht tot. Eine Blüte ist abgefallen, und die Engel Gottes haben sie aufgehoben, um sie in den Schoß Abrahams zu tragen. Bald wird diese Lilie der Erde sich glücklich öffnen im Paradies und für immer die Schrecken der Welt vergessen. Mann, sage Elisa, sie soll das Los ihrer Tochter nicht beweinen. Sage ihr, dass Gott ihr eine große Gnade erwiesen hat. In sechs Tagen wird sie begreifen, welche Gnade Gott ihrer Tochter geschenkt hat. Weint nicht. Niemand soll weinen. Ihr Triumph ist noch größer als der meine, denn die Jungfrauen werden von den Engeln in den Frieden der Gerechten geleitet. Es ist ein ewiger Triumph, der noch zunimmt, niemals abnimmt. Wahrlich, ich sage euch, über euch, nicht über Annalia habt ihr Grund zu weinen. Gehen wir.»Jesus wiederholt den Aposteln und jenen, die sie umgeben: «Eine Blüte ist abgefallen. Sie hat sich zur Ruhe gelegt, und die Engel haben sie aufgehoben. Selig, die reinen Leibes und Herzens ist, denn bald wird sie Gott schauen.»

«Aber wie, woran ist sie denn gestorben, Herr?» fragt Petrus, der noch immer nicht begreift.

«Aus Liebe. In Ekstase. Aus unendlicher Freude! Ein seliger Tod!»

Wer weit vorn oder weit hinten ist, hat nichts bemerkt. Daher fahren sie fort, «Hosanna» zu rufen, während hier, um Jesus herum, schmerzliches Schweigen eingekehrt ist.

Es ist Johannes, der das Schweigen bricht: «Oh, ich wollte, dieses Los wäre auch das meine vor den kommenden Stunden!»

«Ich auch», sagt Isaak. «Ich würde gern das Antlitz des Mädchens sehen, dass aus Liebe zu dir gestorben ist...»

«Ich bitte euch, mir euren Wunsch zu opfern. Ich brauche eure Nähe...

«Wir werden dich nicht verlassen, Herr. Aber gibt es für diese Mutter keinen Trost?» fragt Nathanael.

«Ich werde für sie sorgen...»

Sie sind nun am Tor der Tempelmauer angelangt. Jesus steigt vom Esel, den jemand aus Bethphage übernimmt.

Ich muss noch hinzufügen, dass Jesus nicht beim ersten Tor des Tempels abgestiegen, sondern an der Umfassungsmauer entlanggeritten ist und erst auf der Nordsseite, nahe der Antonia angehalten hat. Dort steigt er ab und geht in den Tempel, als wolle er zu erkennen geben, dass er sich nicht vor der herrschenden Macht versteckt, da er sich in allen seinen Handlungen unschuldig fühlt.

Im ersten Vorhof des Tempels herrscht der übliche Spektakel von Geldwechslern und Händlern mit ihren Tauben, Sperlingen und Lämmern. Nur haben die Händler jetzt nichts zu tun, da alle herbeigeeilt sind, um Jesus zu sehen.

Jesus geht hinein. Er wirkt sehr feierlich in seinem Purpurgewand und läßt den Blick über diesen Markt schweifen und über eine Gruppe von Pharisäern und Schriftgelehrten, die in einem Säulengang stehen und ihn beobachten. Sein Blick flammt vor Unwillen. Mit einem Sprung ist er in der Mitte des Hofes. Ein unvorhergesehener Sprung, der einem Flug gleicht; dem Flug einer Flamme, denn sein Gewand ist eine Flamme im Sonnenlicht, dass den Hof überflutet. Er donnert mit mächtiger Stimme: «Hinaus aus dem Haus meines Vaters! Hier ist kein Ort des Wuchers und des Handels! Es steht geschrieben: „Mein Haus soll ein Bethaus sein.“ Warum habt ihr also dieses Haus, in dem der Name des Herrn angerufen wird, zu einer Räuberhöhle gemacht? Hinaus! Reinigt mein Haus. Damit ich euch nicht anstatt mit der Peitsche mit dem Blitz des himmlischen Zornes treffe. Hinaus! Weg von hier, ihr Diebe, Krämer, Schamlosen und Mörder, ihr Gotteslästerer und Götzendiener des schlimmsten Götzendienstes: des eigenen stolzen Ich, ihr Verderber und Lügner! Hinaus! Hinaus! Oh, ich sage euch, Gott der Allerhöchste wird diesen Ort für immer ausfegen und seine Rache an einem ganzen Volk nehmen!» Er gebraucht nicht die Peitsche wie beim ersten Mal, doch als er sieht, dass die Händler und Geldwechsler sich Zeit lassen zu gehorchen, geht er zum nächsten Tisch und stürzt ihn um, so dass Waagen und Münzen zu Boden fallen.

Die Händler und Wechsler beeilen sich nun, nach diesem ersten Beispiel, den Befehl Jesu zu befolgen. Und Jesus ruft ihnen nach: «Wie oft muss ich euch noch sagen, dass dies kein Ort der Unreinheit, sondern ein Ort des Gebetes ist?» und er schaut die vom Tempel an, die, entsprechend dem Befehl des Hohenpriesters, keinerlei Einwände erheben.

Nachdem der Hof nun gereinigt ist, geht Jesus zu den Säulengängen, wo Blinde, Lahme, Stumme, Krüppel und andere Kranke mit lauter Stimme nach ihm rufe.

«Was wollt ihr, dass ich euch tun soll?»

«Ich möchte sehen, Herr! Die Glieder! dass mein Kind spricht. dass meine Frau gesund wird. Wir glauben an dich, Sohn Gottes!»

«Gott möge euch erhören. Steht auf und preist den Herrn!»

Jesus heilt nicht einen nach dem anderen, sondern macht eine weite Bewegung mit der Hand, und Gnade und Heilung kommen auf die Unglücklichen herab.

Sie erheben sich mit Freudenschreien, die sich mit denen der vielen Kinder vermischen, die sich um Jesus scharen und immer wiederholen: «Ehre, Ehre dem Sohn Davids! Hosanna Jesus von Nazareth, dem König der Könige, dem Herrn der Herren!»

Einige Pharisäer rufen ihm mit scheinheiliger Ehrerbietung zu: «Meister, hörst du sie? Diese Kinder sagen Dinge, die man nicht sagen darf. Tadle sie. Sie sollen schweigen!»

«Warum? Hat der königliche Prophet, der König meines Geschlechtes, nicht gesagt: „Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge hast du dir vollkommenes Lob bereitet, zu beschämen die Feinde.“ Habt ihr diese Worte des Psalmisten nicht gelesen? Laßt die Kinder mein Lob singen. Ihre Engel haben es ihnen eingegeben, denn sie schauen allezeit meinen Vater, kennen seine Geheimnisse und teilen sie diesen Unschuldigen mit. Laßt mich nun alle gehen und den Herrn anbeten!» und Jesus begibt sich, vorbei an den Leuten, in den Vorhof der Israeliten, um zu beten...

Dann geht er zu einem anderen Tor hinaus, vorbei am Probatica-Teich, und verläßt die Stadt, um zu den Hügeln des Ölberges zurückzukehren.

Die Apostel sind begeistert... Der Triumph hat ihnen Sicherheit gegeben und sie alle Schrecken vergessen lassen, vollständig vergessen lassen, die die Worte des Meisters in ihnen hervorgerufen hatten... Sie reden über die Ereignisse... Sie brennen darauf, von Annalia zu hören. Nur mit Mühe hindert Jesus sie daran, zu ihrem Haus zu gehen, indem er ihnen versichert, dass er schon weiß, was er tut... Sie sind alle taub, taub, taub für jeden göttlichen Hinweis... Menschen, Menschen, Menschen, die ein Hosanna-Ruf alles vergessen läßt.

Jesus spricht mit den Dienern der Maria von Magdala, die im Tempel zu ihm gekommen sind, und entläßt sie dann...

«Wo gehen wir jetzt hin?» möchte Philippus wissen.

«Zum Haus des Markus des Jonas?» fragt Johannes.

«Nein, zum Lager der Galiläer. Vielleicht sind meine Brüder dort, und ich würde sie gern begrüßen», sagt Jesus.

«Das könntest du morgen tun», bemerkt Thaddäus.

«Es ist gut, etwas zu tun, solange man es tun kann. Gehen wir zu den Galiläern. Sie werden sich freuen, uns zu sehen. Ihr werdet erfahren, wie es euren Angehörigen geht, und ich werde die Kinder sehen...»

«Und heute abend? Wo werden wir schlafen? In der Stadt? In welchem Haus? Vielleicht dort, wo deine Mutter ist? Oder bei Johanna?» fragt Judas Iskariot.

«Ich weiß es nicht. gewiss nicht in der Stadt. Vielleicht in einem galiläischen Zelt...»

«Aber warum denn?»

«Weil ich Galiläer bin und meine Heimat liebe. Gehen wir.»

Sie machen sich wieder auf den Weg und gehen zum Lager der Galiläer hinauf, dass sich auf dem Ölberg in Richtung Bethanien befindet und dessen Zelte weiß glänzen in der heiteren Aprilsonne.

DER ABEND DES PALMSONNTAGS

Jesus ist mit den Seinen im Frieden des Ölgartens. Es ist Abend. Ein lauer Vollmondabend. Sie haben sich auf den natürlichen Sitzgelegenheiten niedergelassen, den ersten steilen Hängen des Ölgartens, der an diesem kleinen, von der Natur gebildeten Platz, einer Lichtung, beginnt. Der Kedron rauscht über die Steine und scheint mit sich selbst zu reden. Einige Nachtigallen schlagen. Ein leichtes Lüftchen weht. Sonst nichts.

Jesus spricht:

«Nach dem Triumph von heute morgen ist euer Geisteszustand sehr verändert. Was soll ich sagen? dass er gehoben ist? O ja! Nach menschlichen Maßstäben ist er gehoben. Ihr seid in die Stadt hineingegangen und habt wegen meiner Worte gezittert. Es schien, dass jeder von euch fürchtete, die Wachen von jenseits der Mauer würden über ihn herfallen und ihn gefangennehmen.

In jedem Menschen steckt ein anderer Mensch, der sich in den schwierigsten Stunden offenbart. Da ist der Held, der in den Stunden größter Gefahr in Erscheinung tritt bei einem sonst Sanftmütigen, den die Welt immer als unbedeutend angesehen hat, der Held, der im Kampf sagt: „Hier bin ich“, und dem Feind, dem Anmaßenden sagt: „Mit mir musst du dich messen.“ Und dann gibt es den Heiligen, der sagt: „Nehmt mich als Geisel und Opfer. Ich zahle für alle“, während die anderen entsetzt flüchten vor den Gewalttätigen, die nach Opfern dürsten. Dann gibt es den Zyniker, der bei dem allgemeinen Elend noch auf seinen Profit bedacht ist und über die Leichen der Opfer lacht. Es gibt den Verräter, der einen ihm eigenen Mut hat: Den Mut zum Bösen. Der Verräter, eine Verbindung des Zynikers mit dem Feigen, ist doch auch ein Menschentyp, der in schwerwiegenden Stunden zum Vorschein kommt. Denn zynisch schlägt er Profit aus einer Katastrophe, und feige geht er zur stärkeren Partei über. Und er wagt es um seines Nutzens willen, der Verachtung der Feinde und den Flüchen der Verlassenen zu trotzen. Dann gibt es endlich, und das ist der vorherrschende Typ, den Feigling, der in der Stunde der Gefahr nur bedauern kann, sich zu einer Partei oder zu einem Menschen bekannt zu haben, auf denen nun das Anathema liegt, und die fliehen müssen... Dieser Feigling ist kein Verbrecher wie der Zyniker und auch nicht abstoßend wie der Verräter. Doch auch er läßt die Unvollkommenheit seiner geistigen Verfassung erkennen.

Ihr seid von dieser Art. Sagt nicht nein. Ich lese in den Herzen. Heute früh habt ihr gedacht: „Was wird geschehen? Gehen auch wir dem Tod entgegen?“ Und das Niedrigste in euch stöhnte: „Wir erst recht...!“

Ja, aber habe ich euch jemals getäuscht? Von meinen ersten Worten an habe ich zu euch von Verfolgung und Tod gesprochen. Und wenn einer von euch, aus einem Übermaß an Bewunderung, mich als König sehen und vorstellen wollte, als einen der armen Könige der Erde, die immer arm sind, selbst wenn sie als König das Königreich Israel wiederhergestellt hätten, habe ich seinen Irrtum sofort berichtigt und gesagt: „König des Geistes bin ich. Ich biete euch Entbehrungen und Opfer und Leiden. Ich habe nichts anderes. Hier auf Erden habe ich nichts anderes. Aber nach meinem, nach eurem Tod in meinem Glauben werde ich euch ein ewiges Reich geben: das Himmelreich.“ Habe ich vielleicht etwas anderes gesagt? Nein. Ihr sagt nein.

Und ihr habt damals gesagt: „Wir wollen nur dies. Mit dir, wie du und für dich wollen wir sein und leiden, wie dir soll es uns ergehen.“ Ja, dass habt ihr gesagt. Und ihr wart auch aufrichtig. Aber das kam daher, dass ihr wie Kinder gedacht, wie unbesonnene Kinder gesprochen habt. Ihr dachtet, es sei leicht, mir nachzufolgen, und ihr wart so durchdrungen von eurer dreifachen Sinnlichkeit, dass ihr nicht zugeben konntet, das, was ich angedeutet hatte, könnte wahr sein. Ihr dachtet: „Er ist der Sohn Gottes. Er sagt dies, um unsere Liebe auf die Probe zu stellen. Aber er kann nicht von den Menschen geschlagen werden. Er, der Wunder wirkt, wird auch zu seinen eigenen Gunsten ein großes Wunder zu wirken wissen.“ Und jeder fügte noch hinzu: „Ich kann nicht glauben, dass er verraten, gefangengenommen und getötet werden wird.“ Euer menschlicher Glaube an meine Macht war so stark, dass ihr schließlich keinen Glauben mehr an meine Worte gehabt habt, keinen wahren, geistigen, heiligen und heiligmachenden Glauben.

„Er, der Wunder wirken kann, wird wohl eines zu seinen Gunsten wirken“, habt ihr gesagt. Nicht nur eines, sondern viele werde ich noch wirken. Und zwei werden so sein, dass kein menschlicher Verstand sie sich ausdenken kann.* Es werden Wunder sein, die nur jene, die an den Herrn

glauben, erkennen können. Alle anderen werden zu allen Zeiten sagen: „Unmöglich.“ Auch nach meinem Tod werde ich Gegenstand des Widerspruchs für viele sein.

*Anspielung auf die beiden größten Wunder: Die Euchristie und die Auferstehung.

An einem schönen Frühlingsmorgen habe ich auf einem Berg die verschiedenen Seligkeiten genannt. Es gibt noch eine: „Selig jene, die glauben und nicht sehen.“ Ich habe auf den Wegen Palästinas schon gesagt: „Selig, die das Wort Gottes hören und es befolgen.“ Und weiter: „Selig, die den Willen Gottes tun.“ Und anderes, vieles mehr habe ich euch gesagt, denn im Haus meines Vaters gibt es zahlreiche Freuden, die die Heiligen erwarten. Aber auch diese gibt es: Oh, selig jene, die glauben werden, ohne mit den leiblichen Augen gesehen zu haben! Viele Heilige wird es geben, die schon auf Erden Gott sehen, den verborgenen Gott im Mysterium der Liebe.

Aber ihr, ihr habt nach drei Jahren, in denen ihr bei mir seid, diesen Glauben noch nicht erlangt. Ihr glaubt nur an das, was ihr seht. Deshalb sagt ihr seit heute früh, nach dem Triumph: „Es ist so, wie wir gesagt haben. Er wird siegen und wir mit ihm.“ Wie die Vöglein, denen neue Flügel gewachsen sind, nachdem ein grausamer Mensch sie ihnen ausgerissen hatte, erhebt ihr euch zum Flug, trunken vor Freude, sicher und befreit von der Bedrückung, die meine Worte in euren Herzen zurückgelassen hatten.

Ist somit euer Geist nun auch freier? Nein, er ist sogar weniger frei. Denn ihr seid jetzt noch weniger vorbereitet auf die Stunde, die anbricht. Ihr habt die Hosanna wie starken, wohltuenden Wein getrunken, und ihr seid trunken davon. Ist ein Betrunkener jemals stark? Ein Kinderhändchen genügt, um ihn ins Wanken und zu Fall zu bringen. So seid ihr. Und das Erscheinen der Häscher wird ausreichen, um euch in die Flucht zu schlagen wie scheue Gazellen, die die spitze Schnauze des Schakals hinter einem Felsen des Berges auftauchen sehen und wie der Wind in der Einsamkeit der Wüste verschwinden.

Oh, hütet euch, an schrecklichem Durst zu sterben in der trockenen Wüste der Welt ohne Gott! Sagt nicht, sagt nicht, o meine Freunde, was Isaias sagt, wenn er auf diesen euren falschen und gefährlichen Geisteszustand hinweist. Sagt nicht: „Dieser redet nur von Verschwörungen. Aber es gibt nichts zu fürchten, nichts zu erschrecken. Wir brauchen nicht zu fürchten, was er uns prophezeit. Israel liebt ihn. Wir haben es gesehen.“ Wie oft tritt der nackte, zarte Fuß eines Kindes auf die blühenden Gräser einer Wiese, um Blumen zu pflücken und sie der Mama zu bringen, in der Meinung, es gäbe nur Gräser und Blumen; indessen setzt es seine Ferse auf eine Schlange, wird gebissen und stirbt! Die Blumen hatten die Schlange verborgen.

Auch heute morgen... auch heute morgen ist es so gewesen. Ich bin der mit Rosen bekränzte Verurteilte. Die Rosen! ... Wie lange halten Rosen? Was bleibt von ihnen, wenn ihre Blüte sich entblättert hat und ihre Blütenblätter duftender Schnee geworden sind? Nur Dornen.

Ja, Isaias hat es gesagt, ich werde für euch Heiligung sein, und ich sage, nicht nur für euch, sondern für die ganze Welt. Aber auch der Stein des Anstoßes werde ich sein, der Stein des Ärgernisses, Schlinge und Ruin für Israel und die Welt. Ich werde alle heiligen, die guten Willens sind, und ich werde alle fallen und zerschellen lassen, die bösen Willens sind.

Die Engel lügen nicht, und ihre Worte haben nicht nur kurze Gültigkeit. Sie kommen von Gott, der die Wahrheit und ewig ist, und was sie sagen, ist Wahrheit und unveränderliches Wort. Sie haben gesagt: „Friede den Menschen, die guten Willens sind.“ Damals wurde, o Erde, dein Erlöser geboren. Nun geht dein Erlöser in den Tod. Aber um Frieden bei Gott zu haben, also Heiligung und Ehre, ist es erforderlich, „guten Willens“ zu sein. Vergebens meine Geburt, vergebens mein Tod für jene, denen dieser gute Wille fehlt. Mein erstes Wimmern und mein letztes Röcheln, der erste Schritt und der letzte, die Wunde der Beschneidung und die der Erfüllung, alles wird vergebens gewesen sein, wenn ihr, wenn die Menschen nicht den guten Willen haben, sich zu erlösen und zu heiligen.

Und ich sage euch: Sehr viele werden an mir anstoßen, der ich als Säule und Stütze, und nicht als Falle für den Menschen gesandt bin. Sie werden fallen, weil sie trunken von Hochmut, Unzucht und Geiz sind, und sie werden im Netz ihrer Sünden gefangen und Satan gegeben werden. Senkt diese Worte in eure Herzen und versiegelt sie für die künftigen Jünger.

Gehen wir. Der Stein erhebt sich'. Ein weiterer Schritt voran. Auf den Berg. Er muss auf dem Gipfel leuchten, denn er ist Sonne, er ist Licht, er ist Aufgang. Und die Sonne strahlt auf den Gipfeln. Er muss auf dem Berg sein, denn der wahre Tempel muss von der ganzen Welt gesehen werden. Ich selbst errichte ihn mit dem lebendigen Stein meines geopferten Fleisches. Ich werde die Teile verbinden mit dem Kalk aus Schweiß und Blut. Auf meinem Thron werde ich in einen Mantel aus lebendigem Purpur gehüllt sein, mit einer neuen Krone gekrönt, und jene, die fern sind, werden zu mir kommen und in meinem Tempel arbeiten und in seinem Umkreis. Ich bin der Grundstein und der Gipfel. Aber ringsherum wird sich das Haus Gottes immer weiter ausdehnen. Ich selbst werde meine Steine und meine Bauleute bearbeiten. So wie ich vom Vater, von der Liebe, vom Menschen und vom Haß mit dem Meißel bearbeitet wurde, ebenso werde ich sie bearbeiten. Und nachdem an einem einzigen Tag die Ungerechtigkeit von der Erde genommen sein wird, werden auf dem Stein des ewigen Priesters die sieben Augen ruhen, um Gott zu sehen, und die sieben Quellen entspringen, um das Feuer Satans zu besiegen.

Satan... Judas, wir wollen gehen. Vergiß nicht, dass die Zeit drängt und das Lamm für den Donnerstagabend ausgeliefert sein muss.»

Zacharias 3,9